Ravensburg, Liebfrauenkirche
Einführung zum Standort
Die Ravensburger Liebfrauenkirche war zusammen mit ihrer Mutterkirche in Altdorf seit 1279 der nahe gelegenen Benediktinerabtei Weingarten inkorporiert. Obwohl die Stadt im Spätmittelalter versucht hatte, die klösterlichen Rechte und Ansprüche einzuschränken, blieb der Abt von Weingarten stets Kirchenrektor und Pfründeninhaber der größten Pfarrei der Reichsstadt, und in dieser Funktion gebührte ihm zuallererst auch das Recht, als Fensterstifter in der Kirche aufzutreten. Im Kreis der Klosterbrüder ist vermutlich auch jener Gelehrte zu suchen, der das differenzierte Bildprogramm konzipiert hatte.
Ursprünglich war die Liebfrauenkirche eine schlichte dreischiffige, flach gedeckte Basilika mit einem 5/8-Chorschluss in der Breite des Mittelschiffs, der von insgesamt sieben drei- bzw. zweibahnigen Fenstern mit Fischblasenmaßwerk erhellt wurde. Bei der Regotisierung in den Jahren nach 1891 erhielt der Chor nicht nur ein Kreuzrippengewölbe, sondern er verlor auch zwei Fenster auf der Südseite. Diese Veränderung wie auch die bettelordensmäßige Kargheit der ursprünglichen Gestalt haben die stilgeschichtliche Beurteilung des undatierten Baues erschwert. Er dürfte nach der Karmeliterkirche (Ordensniederlassung 1344) und vor der Pfarrkirche St. Jodok (Gründungsurkunde 1385) in verhältnismäßig kurzer Zeit aufgeführt worden sein1.
Literatur:
Heinrich Detzel, Alte Glasmalereien am Bodensee und seiner Umgebung, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 20, 1891, S. 52−69
Gebhard Spahr, Spätmittelalterliche Glasmalerei. Liebfrauenkirchen Ravensburg und Eriskirch, Konstanz 1976
Rüdiger Becksmann, Die mittelalterlichen Glasmalereien in Schwaben von 1350 bis 1530 ohne Ulm (Corpus Vitrearum Medii Aevi Deutschland I,2), Berlin 1986, S. 160−187
Constanze Itzel, Der sogenannte "Ulmer Hochaltar" der Staatsgalerie Stuttgart. Ein anspruchsvolles Werk der Bodenseemalerei aus der Konzilszeit, in: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen Baden-Württemberg 37, 2000, S. 19–56
Uwe Gast, Die Inschriften im Kindheit-Christi-Fenster der Liebfrauenkirche in Ravensburg. Ein Nachtrag zu „Die mittelalterlichen Glasmalereien in Schwaben von 1350 bis 1530 ohne Ulm“ von Rüdiger Becksmann (1986), in: corpusvitrearum.de, 17.01.2022
Chor
Die Chorfenster der Ravensburger Liebfrauenkirche sind von derselben Glasmalerwerkstatt geschaffen worden wie die Fenster der Pfarr- und Wallfahrtskirche in Eriskirch, die nach Ausweis der dort dargestellten Stifterpersonen zwischen 1412 und 1427 entstanden sein müssen2. Das Gleiche gilt für die Restscheiben des Passionsfensters aus Saulgau auf Schloss Sigmaringen3. Auch die Tafeln des vermeintlich ehemaligen Ulmer Hochaltars – 18 Tafeln eines Altarretabels, das aber in der Pfarrkirche von Saulgau (unweit von Ravensburg) gestanden haben dürfte – stehen den Ravensburger Fenstern stilistisch nahe (Stuttgart, Staatsgalerie4). Darüber hinaus sind Bezüge zu den Flankenfenstern des Ostchors der Rothenburger Stadtpfarrkirche St. Jakob sowohl in der Großmedaillonform als auch im ornamentalen Apparat gegeben. Gut möglich, dass der maßgebliche Ravensburger Glasmaler seine Ausbildung in den 1390er-Jahren in einer Nürnberger oder Münchner Werkstatt erfahren hat und später, zu Beginn des 15. Jahrhunderts, möglicherweise über Ulm, nach Oberschwaben neuen aussichtsreichen Aufträgen entgegengezogen ist. Entsprechendes lässt sich auch für die ältesten Fenster des Ulmer Münsterchors von 1405–1415 nachweisen. Dort ist die Werkstatt des Annen-Marien-Fensters, des Johannesfensters und des − 1480 durch Peter Hemmel ersetzten – Heilsspiegelfensters, dessen mutmaßliche Restfelder sich in der Kunstsammlung des Herzogs von Württemberg auf Schloss Altshausen befinden, mit Sicherheit aus der Nürnberger Tradition hervorgegangen. Mit den Chorfenstern der Liebfrauenkirche und den daran anzuschließenden Werken ist jedenfalls eines der umfangreichsten und bedeutendsten künstlerischen Œuvre aus der Zeit des Konstanzer Konzils im süddeutschen Raum erhalten geblieben. Denn im Unterschied zu der vagen, weit gespannten stilistischen Verortung der Fenster ist deren Datierung inschriftlich gesichert: Unten am Fenster n II ist auf originalem Glas in lateinischer Zahlenfolge die Jahreszahl 1419 zu lesen, die sich wegen des Worts vitra (lat. vitrum = Glas, Fenster) auf die gesamte Chorverglasung bezogen haben dürfte.
Ravensburg(?), 1419.
Zugehörige Fenster
- Georg Dehio, Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Baden-Württemberg II. Die Regierungsbezirke Freiburg und Tübingen, bearbeitet von Dagmar Zimdars u. a., München/Berlin 1997, S. 550–552.»
- Becksmann 1986, S. 42–57, Abb. 67–79, 462, 487–491.»
- Becksmann 1986, S. 193–205, Abb. 301, 303–321.»
- S. Itzel 2000.»