Ulm, Münster
Einführung zum Standort
Die Glasmalereien des Ulmer Münsters aus der Zeit um 1400 bis 1480 sind unbestrittene Meisterwerke spätgotischer Glasmalerei. Teils wurden sie importiert von führenden Nürnberger und Straßburger Werkstätten, teils von ansässigen Glasmalern geschaffen, die mit den modernsten Kunstströmungen der Zeit vertraut waren.
Das Ulmer Münster – die Pfarrkirche der Stadt Ulm – ist eine Neugründung des Jahres 1377 inmitten der Stadt anstelle der aufgelassenen alten, vor der Stadtmauer gelegenen Pfarrkirche Unser frowen über velt. Namhafte Baumeister aus der Dynastie der Parler, der Ensinger und Böblinger waren maßgeblich an der Aufführung des gewaltigen Kirchenbaus beteiligt. Die erste glaubwürdig überlieferte Weihe des Chors ist für den 25. Juli 1405 überliefert, und zum damaligen Zeitpunkt war zumindest ein Teil der Chorfenster bereits farbig verglast. Die Errichtung und Farbverglasung der 1414 gestifteten zierlichen Familienkapelle der Besserer an der Südseite des Chors war um 1430/31 abgeschlossen. Der 1439 gestiftete, doch erst 1444 begonnene Anbau der Neithart-Kapelle auf der Nordseite des Chors ist in den wesentlichen Partien erst 1450 vollendet worden. Mit Aufführung der Fensterzone und Schließung des hohen Gewölbes im Langhaus im Jahr 1471 war das Kirchenschiff nach fast einhundertjähriger Bauzeit im Wesentlichen fertiggestellt. Dies war auch die Zeit ehrgeiziger Aktivitäten zur Neuausstattung des Münsterinnern, die mit Sakramentshaus, Taufstein, Dreisitz, Chorgestühl und Hochaltar besonders den Chorraum betrafen und sich dort auch auf die Neuverglasung von Rats- und Kramerfenster 1480/81 erstreckten.
Mit einem Gesamtbestand von annähernd 450 mittelalterlichen Rechteck-, Kopf- und Maßwerkscheiben zählt das Ulmer Münster zusammen mit den Domen von Köln, Regensburg, Erfurt, München, Stendal und Halberstadt, dem Freiburger Münster und den beiden großen Nürnberger Pfarrkirchen St. Sebald und St. Lorenz zu den zehn größten und bedeutendsten Glasmalerei-Standorten in Deutschland.
Der Bestand verteilt sich wie folgt auf die einzelnen Bauteile Chor, Besserer-Kapelle, Neithart-Kapelle und Langhaus des Münsters:
1. Im Chor sind in sechs großen Fenstern der Apsis insgesamt 268 Felder mit mittelalterlicher Substanz bewahrt. Sämtliche Kopf- und Maßwerkscheiben sind im Zweiten Weltkrieg zugrunde gegangen (1944), doch sind sie zum Teil in Aufnahmen von 1930 überliefert. Die drei verkürzten Fenster des Langchors hatten ihre mittelalterliche Farbverglasung bereits zu Anfang des 18. Jahrhunderts verloren.
2. Die Farbverglasung der Besserer-Kapelle umfasst in sieben Fensteröffnungen 43 Rechteckscheiben und 11 Maßwerkfelder. Auch hier wurde das Gros der im Krieg nicht geborgenen Maßwerkscheiben 1944 zerstört. Sechs fehlende Felder der Chörleinverglasung, die 1964/65 durch Neuschöpfungen von Hans Gottfried von Stockhausen ersetzt wurden, waren bereits Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr nachzuweisen.
3. Die Neithart-Kapelle beherbergt in ihren drei Raumabschnitten 7 Rechteck- und 8 Maßwerkfelder, von denen aber nur eine einzige Scheibe ursprünglich für die Kapelle bestimmt gewesen war. In der Neithart-Bibliothek im ersten Turmgeschoss oberhalb der Kapelle befinden sich außerdem zwei, hier nicht behandelte Wappenscheiben.
4. Die in situ befindlichen spärlichen Überreste der einstmals vollständigen Langhausverglasung umfassen in vier Obergadenfenstern mit 36 überkommenen Rechteckscheiben Zunftstiftungen der Tuchscherer, Zimmerleute, Schmiede und Fischer, in der Fensterstiftung der Besserer über dem Westportal 13 und in zwei Fenstern des nördlichen Seitenschiffs – darunter die Stiftung der Wollweber – 24 Rechteckfelder und 6 Maßwerkscheiben. Darüber hinaus sind 28 fragmentierte, hier ebenfalls nicht behandelte Restfelder zu nennen, die im Münsterdepot aufbewahrt werden. Sie sind Relikte abgegangener Langhausfenster, die bei Restaurierungen des 19. Jahrhunderts ausgeschieden und durch Neuschöpfungen ersetzt wurden.
Literatur:
Elias Frick, Templum Parochiale Ulmensium / Ulmisches Münster [...], Ulm 1731
Paul Frankl, Peter Hemmel. Glasmaler von Andlau, Berlin 1956
Hartmut Scholz, Die mittelalterlichen Glasmalereien in Ulm (Corpus Vitrearum Medii Aevi Deutschland I,3), Berlin 1994
Hartmut Scholz / Uwe Gast, Das Ulmer Münster (Meisterwerke der Glasmalerei 8), Regensburg 2019
Chor
Im Chor des Ulmer Münsters sind mit insgesamt 268 Rechteckscheiben etwa zwei Drittel der ursprünglichen Farbverglasung erhalten. Es ist der umfangreichste zusammengehörige Komplex mittelalterlicher Glasmalerei in Schwaben.
Die einschiffige Choranlage besitzt neun Fensteröffnungen, doch nur die sechs großen Fenster des Polygons und der Südseite des vierten Chorjochs (Fenster I, n II, s II, n III, s III und s IV) enthalten mittelalterliche Glasmalereien. Die drei verbleibenden Fenster im dritten und vierten Joch (n IV, n V und s V) tragen eine moderne Verglasung von Hans Gottfried von Stockhausen aus den Jahren 1955/561.
Der spätgotische Scheibenbestand der sechs großen Chorfenster ist nicht einheitlich:
1. Von der Erstausstattung des Münsterchors von ca. 1400–1449 sind nur mehr vier Fenster mit rund 220 Rechteckfeldern in situ erhalten geblieben:
Freuden-Marien-Fenster (s III)
2. Die Chorfenster I und n II erhielten 1480 im Rahmen der Neuausstattung des Altarraums eine neue (zweite) Farbverglasung im Auftrag von Rat und Kramerzunft, die mit 93 Rechteckfeldern weitgehend komplett erhalten ist.
Zugehörige Fenster
- Fenster I (Ratsfenster)
- Fenster n II (Kramerfenster)
- Fenster s II (Annen-Marien-Fenster)
- Fenster n III (Johannesfenster)
- Fenster s III (Freuden-Marien-Fenster)
- Fenster s IV (Medaillonfenster)
Besserer-Kapelle
Die Farbverglasung der Besserer-Kapelle umspannt in fünf Fenstern des Chörleins und dem anschließenden Fenster der Südwand in fortlaufender Folge die gesamte Heilsgeschichte von der Erschaffung der Welt bis zum Jüngsten Gericht am Ende der Tage. Die außergewöhnliche Abfolge der Einzelszenen vollzieht sich im Polygon ohne Betonung der Achse gleichmäßig von links nach rechts (von n III über n II, I, s II bis s III) und jeweils – wie zuvor in den älteren Chorfenstern des Münsters – von oben nach unten.
So weitgespannt die Thematik des unvergleichlichen Bilderbogens ist, so breit gestreut sind die ikonografischen und motivischen Vorbilder, die hierbei von den Ulmer Glasmalern Hans Acker und Jos Mathis um 1430/31 in freier Adaption verarbeitet wurden. Während einerseits der Skulpturenschmuck des Ulmer Münsters aus dem späten 14. Jahrhundert Anregungen für die eher traditionellen Bildlösungen der Genesis, des Alten Testaments und des Weltgerichts lieferte, ist andererseits die moderne Gestaltung der Landschafts- und Innenräume, die das Bild in den Fenstern des Neuen Testaments bestimmt, ohne Kenntnis modernster franko-flämischer Werke aus dem Kreis der führenden Ateliers nicht zu erklären.
Zugehörige Fenster
- Fenster n III (Genesis I)
- Fenster n II (Genesis II)
- Fenster I (Kindheit Christi)
- Fenster s II (Passion Christi I)
- Fenster s III (Passion Christi II)
- Fenster s IV (Jüngstes Gericht)
- Fenster no IV (Hll. Katharina, Barbara und Hieronymus)
Neithart-Kapelle
Die Neithart-Kapelle an der Nordseite des Münsterchors hat ihre ursprüngliche Farbverglasung größtenteils verloren. Deren Bildprogramm ist jedoch in einer Beschreibung des Pfarrers Marcus (Marx) Wollaib (1641–1733) aus dem Jahr 1714 überliefert, dem Paradysus Ulmensis (Ulm, Stadtarchiv, G1/1714, fol. 1892).
Von den drei Fenstern der Kapelle, die alle gemalt gewesen seien, notiert Wollaib für das Ostfenster das Bild des Gekreuzigten zwischen Maria und Johannes sowie eine Weiheinschrift mit dem Datum 1450: Haec . capella . consecrata . est . in . honorem . Sacro Sanctae . crucis . Sanctissimae . Mariae . Virginis et Electorum . Petri . et Pauli . et Andreae . Apostolorum . sanctorum Stephani & Laurencii martirum & sanctarum et Sanctae Mariae Magdalenae et Afrae Martyrum Anno Domini M C C C C L.
Im großen vierbahnigen Fenster n II, das heute zur Gänze blankverglast ist, befanden sich noch vier Felder mit den folgenden Darstellungen (von links nach rechts): 1. die Stifterfigur eines knienden Geistlichen mit dem Wappen der Neithart und dem Schriftband Sancte . Jeronime . Doctor . Eximie . pro nobis intercede; 2. ein Kardinal, an dem ein Löwe aufrecht steht, als wenn er ihm in den Schoß springen wollte (heute Fenster I); 3. die Hll. Felix und Regula mit abgeschlagenen Häuptern; 4. ein zweiter kniender Geistlicher mit dem Wappen der Neithart und Schriftband Sanctorum Felicis et Regulae oratio commendet nos omnipotenti Deo.
Im ersten Fenster (n IV) saßen drei Felder: 1. ein dritter kniender Priester mit Inschrift: Maria virgo virginum ora pro nobis tuum filium; 2. die Einsetzung der Eucharistie; 3. das Bild des Hl. Kaisers Heinrich mit Inschrift der Hailig Kayser Hainrich.
Im 19. Jahrhundert, und hier möglicherweise besonders im Jahr 1817, als auf Anweisung des Evangelischen Konsistoriums in Stuttgart zur 300. Jahrfeier der Reformation die alten, oft Aberglauben nährenden Gemälde [...] geschmackvoll und gefällig übertüncht und die Wappen und Totenschilde herabgenommen wurden, scheinen die meisten farbigen Fensterreste der Neithart-Kapelle mit unbekanntem Verbleib verschleudert und durch Blankverglasungen ersetzt worden zu sein. Nur die Stifterscheiben mit den Bildern der Kanoniker Ludwig und Matthäus Neithart aus der ersten und vierten Bahn des Fensters n II konnten später in der Sammlung auf Burg Kreuzenstein bei Wien nachgewiesen werden, wohin sie nach Angabe des dortigen Inventars auf dem Umweg über das schlesische Beelitz gelangt sein sollen3.
Im Zusammenhang mit der ersten durchgreifenden Restaurierung der Münsterfenster um 1870 durch den Nürnberger Glasmaler Hermann Kellner diente die Neithart-Kapelle erstmals zur Aufnahme heimatlos gewordener Glasgemälde aus dem Münster. Damals wurde die Darstellung der Hl. Katharina aus dem Marnerfenster (Lhs. n VII) entfremdet und mit einem Weberschiffchen ungesicherter Herkunft auf die Scheibenmaße des Turmhallenfensters n IV zurechtgestutzt. Für die Maßwerkverglasung desselben Fensters wurde auf die unterschiedlichsten Fragmente abgegangener Münsterfenster zurückgegriffen, die erst durch entsprechende Beschneidungen und Ergänzungen in ihre heutige Form gebracht wurden.
Nach 1892 gelangten drei Restscheiben des Roth'schen Fensters aus dem südlichen Langhaus (Lhs. s X), die dort der Neuverglasung durch die Werkstatt Burckhardt (München) weichen mussten, in das Ostfenster der Neithart-Kapelle.
Die Scheibe mit dem Drachenkampf des Hl. Georg wurde erst 1960 – unter Wiederverwendung alter Butzenscheiben der im 19. Jahrhundert abgebrochenen Barfüßerkirche – in das kleine Fenster n III versetzt. Sie befand sich zuvor im Münsterarchiv und stammt nach Aussage des früheren Münsterbaumeisters Karl Friederich nicht aus dem Münster.
Zugehörige Fenster
- Fenster I (Allianzwappen / Hl. Hieronymus in der Stube)
- Fenster n III (Hl. Georg im Kampf mit dem Drachen)
- Fenster n IV (Wappen der Weberzunft und Hl. Katharina / Maßwerkreste)
Langhaus
Von den insgesamt 48 mittelalterlichen Fensteröffnungen des Langhauses, die ehemals alle – wenn nicht vollständig, so doch zumindest partiell – farbig verglast waren, sind heute nur noch neun mit mittelalterlichen Glasmalereien versehen:
1. Ein Seitenschifffenster, das Marnerfenster über dem nordöstlichen Portal (n VII), hat mit 4 Rechteckscheiben und 6 Kopf- bzw. Maßwerkscheiben einen Teil seiner ursprünglichen Farbverglasung in situ bewahrt.
2. Die heute im Fenster über der Kutteltür (nw XVIII) zusammengestellten und modern umrahmten 14 Rechteckscheiben mit Heiligen sind Reste aus wenigstens einem vierbahnigen Fenster (oder mehreren Fenstern), dessen bzw. deren ursprünglicher Standort nicht mehr zu ermitteln ist.
3. Im Fenster n XVI der Turmhalle befinden sich 10 mittelalterliche Rechteckscheiben inmitten einer modernen Umgebung nach einem Entwurf von Ludwig Schaffrath (19954).
4./5. Zwei Fenster über dem Westportal bewahren weitere 13 mittelalterliche Rechteckscheiben; ein stark fragmentiertes vierzehntes Feld im Depot gehört zur Passionsfolge der Fenster und ist dort durch eine Kopie ersetzt. Mehrere stark beschädigte Überreste der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Maßwerkverglasung werden in Kisten aufbewahrt.
6.–9. In vier Zunftfenstern des Obergadens sind noch 36 mittelalterliche Rechteckscheiben an Ort und Stelle verblieben.