Zell am Harmersbach, Rathaus
Einführung zum Standort
Die badische Kleinstadt Zell am Harmersbach liegt etwa 20 Kilometer südöstlich von Offenburg im mittleren Schwarzwald. Von Kloster Gengenbach gegründet (Ersterwähnung 1139) und schon im 13./14. Jahrhundert als städtische Gemeinde („civitas“) ausgewiesen, wurde Zell, wie Offenburg und Gengenbach, mit der Erlangung der Reichsfreiheit im Jahr 1366 eigenständiger „Akteur“ innerhalb des vielteiligen, komplizierten Herrschaftsgefüges in der Reichslandvogtei Ortenau, die – bis um 1551/1557 – jeweils zur Hälfte an die Bischöfe von Straßburg (1351) und die Grafen von Fürstenberg (1504) verpfändet war. Die drei Städte Offenburg, Gengenbach und Zell ließen sich ihre reichsstädtischen Privilegien stets erneuern und waren seit 1575 als sogenannte Vereinsstädte zusammengeschlossen, um ihre Position gegenüber der Landvogtei zu stärken1.
1543 wurde das mittelalterliche Rathaus der Stadt bei einem Stadtbrand vollständig zerstört. Nach der Erneuerung aller Freiheiten, Rechte und Zölle durch Kaiser Karl V. (1545) wurde es im Jahr 1546 – mit einer Markthalle im Erdgeschoss sowie Versammlungs- und Verwaltungsräumen im Obergeschoss – neu erbaut2. Im Zusammenhang mit diesem Neubau bat die Stadt umliegende Orte, Gerichte und Herrschaften um die Stiftung von Fenstern mit Glasgemälden (Wappen) für den Ratssaal – eine „Sitte“, die im 15./16. Jahrhundert gebräuchlich geworden war und die Verbundenheit von Schenkenden und Beschenktem zum Ausdruck brachte3. Ein entsprechender Bittbrief an den Bischof der Stadt Straßburg wird von Erich Honickel zitiert: „Nachdem uns großer Schaden durch das Abbrennen unserer Häuser und unserer Gemeinen Ratsstube zugefügt wurde, haben wir sie wieder aufbauen lassen. Nun müssen noch die Fenster eingesetzt werden. Da auch die Vorfahren des gnädigen Fürsten ihr Wappen und Gedächtnis im alten Rathaus schenkungsweise anbringen ließen, also bitten wir untertäniglich, daß der hohe Fürst ebenfalls sein Wappen nebst Fenster für unsere Ratsstube stiften möchte“4. Zwölf solcher Wappenscheiben aus den Jahren 1547, 1548, 1551 und 1595 sind in Zell am Harmersbach erhalten geblieben.
Literatur:
Max Wingenroth, Die Kunstdenkmäler des Kreises Offenburg (Die Kunstdenkmäler des Großherzogtums Baden VII), Tübingen 1908, S. 568f.
Franz Disch, Chronik der Stadt Zell am Harmersbach, Lahr 1937
Erich Honickel, Eine geroldseckische Wappenscheibe. Walter VI. von Geroldseck als Stifter einer Standesscheibe im Rathaus von Zell am Harmersbach, in: Geroldsecker Land 16, 1974, S. 174f.
Dieter K. Petri, Zell am Harmersbach im Wandel der Zeit, Zell am Harmersbach 22022
Lisa Eberhardt / Gerlinde Möhrle / Sandra Williger, Im neuen Licht. Die Wappenscheiben des Zeller Rathauses, in: Denkmalpflege in Baden-Württemberg 53, 2024, S. 188–195
Geschichte, Erhaltung, Rekonstruktion und Einordnung
Die Wappenscheiben werden schon in der Literatur des 19. Jahrhunderts erwähnt5 1881 waren sie in Karlsruhe ausgestellt6, womit eine vorherige Reparatur verbunden gewesen sein dürfte; eine Reihe von Scheiben weist Ergänzungen des späten 19. Jahrhunderts auf (Nr. 1, 5–7, 9–11). Als der Rathausbau 1895 durch einen historistischen Neubau ersetzt wurde, wurden die Scheiben in ihn übernommen und im Ratssaal im Erdgeschoss eingebaut7. Später waren sie zeitweise deponiert8. Nach ihrer in den Jahren 2022/23 vorgenommenen Konservierung und Restaurierung in der Werkstatt der Dipl.-Restauratorinnen Gerlinde Möhrle und Sandra Williger, Köln, werden sie nunmehr in musealer Präsentation in dem modernen Anbau ausgestellt, um den das Zeller Rathaus jüngst erweitert wurde (2018–2023)9.
Es ist verschiedenen älteren und jüngeren Reparaturen an den Scheiben geschuldet, dass sie in einem teils verstümmelten, teils von Flickstücken und Ergänzungen durchsetzten Zustand erhalten sind, wozu Bemalungsverluste auf einzelnen originalen Glasstücken hinzukommen. Mit Ausnahme von Nr. 1 hat keine der Scheiben ihre ursprüngliche Größe bewahrt. Sie sind bei variierenden Breitenmaßen zwischen 21,5 und 36,5 cm vor allem in der Höhe beschnitten, wobei bei Nr. 2, 4 und 6 jeweils nur die Oberbilder geringfügig angeschnitten sind, wohingegen Nr. 7–10 auf unterschiedliche Weise – so durch Entfernen des Wappenschilds (Nr. 7), der bekrönenden Oberbilder (Nr. 8f.) oder der Helmzier auf dem Schild (Nr. 10) – radikal um ca. 10 cm gekürzt wurden. Man darf vermuten, dass diese formal wie inhaltlich brutalen Verunstaltungen einschließlich der großflächigen Reparaturen mittels Flickstücken auf eine Umbau- und Verglasungsmaßnahme des späten 18. oder frühen 19. Jahrhunderts zurückgehen, bei der die Scheiben auf ein annähernd einheitliches Höhenmaß gebracht wurden.
Auch wenn es nach gegenwärtigem Kenntnisstand weder schriftliche noch bildliche Quellen zur ursprünglichen Anordnung der Wappenscheiben im alten Rathaus von 1546 gibt, so sind doch Anhaltspunkte für eine Rekonstruktion gegeben. Zunächst: Der Bau hatte straßenseitig in seinem Obergeschoss sieben Fensteröffnungen, vermutlich zweibahnige, vierteilige Kreuzstockfenster, was die Anbringung von je zwei Glasgemälden pro Fenster erlaubte; üblich war eine Anbringung der Glasgemälde in den oberen Abteilungen, wie es zum Beispiel für das Rathaus in Endingen am Kaiserstuhl belegt ist. Fragmente von weiteren Wappenscheiben sind in Form von Flickstücken in den Zeller Scheiben erhalten (Architekturfragmente in Nr. 3, 4, 9f., 12; Wappenhalter in Nr. 2; etc.). Sodann ist anzunehmen, dass die großen Wappenscheiben höherrangiger Fensterstifter im Zentrum der Fensterfront platziert waren (Nr. 7–10), während die kleineren Scheiben der Städte und Gerichte links und rechts der Mitte eingesetzt waren (Nr. 1–6, 11f.). Die Blickrichtung der Figuren könnte bei Nr. 2 (Pasticcio), Nr. 3–5 und Nr. 11 für eine ursprüngliche Anbringung dieser Scheiben auf der rechten, bei Nr. 1 auf der linken Seite sprechen. Bei Nr. 6 sind Wappen und Helmzier ebenfalls der heraldisch linken Seite zugewendet.
Für die aktuelle Präsentation der Scheiben an zwei gegenüberliegenden Wänden musste aber eine andere Anordnung gefunden werden. Die Tübinger Master-Studentin Lisa Eberhardt fand im Rahmen ihres Praktikums am Freiburger Corpus Vitrearum Medii Aevi Deutschland eine glückliche, sensible Lösung. Sie ging von der Erkenntnis aus, dass der Großteil der Scheiben nach Erhaltung, Komposition und Stil in mehrere Gruppen gegliedert werden kann (Nr. 2–5, 7–10, 11f.), was ihr als Basis für eine dem entsprechende, auf beide Wände verteilte Reihung der Glasgemälde diente (s. Westseite, Ostseite)10.
Was die rein stilistische Gruppierung und die Einordnung der Scheiben betrifft, scheint sich dagegen eine leicht abweichende Gliederung zu ergeben. Zunächst ist in Betracht zu ziehen, dass Nr. 2–5 und Nr. 7–10 trotz ihrer einstigen Größenunterschiede und ihrer Abweichungen in den Kompositionen von ein und derselben Glasmaler-Werkstatt geschaffen worden sind, ohne Zweifel im Auftrag der Stadt Zell. Zwischen beiden Gruppen gibt es Überschneidungen, die zum Beispiel die architektonische Rahmung, die Inschriften (mit Ausnahme von Nr. 2, 9), die Ornamentierung der Wappenschilde und die Figurentypen betreffen. Über die Scheibe mit dem Wappenfragment des Bischofs Erasmus Schenk von Limpurg (amt. 1541–1568) scheint die Spur in eine Straßburger Werkstatt zu führen, die auf Risse Hans Baldung Griens († 1545) bzw. auf entsprechende Nachzeichnungen Zugriff hatte; die musizierenden Putti gehen in teils direkter Linie auf Arbeiten Hans Baldungs zurück (s. hierzu Nr. 7). Die Scheibe des Abts Rudolf III. Garb von Schuttern (Nr. 9) erinnert formal ebenfalls an ein Straßburger Glasgemälde, das um 1530 entstandene Bildnis des Humanisten Johann Huttich (Huttichius) (1490–1544), das diesen als Inhaber der Chorkönigspfründe thronend in einer Renaissancearchitektur zeigt11. Während schließlich auch das mit einem „H“ signierte(?) Wappen der Stadt Straßburg (Nr. 6), das von Nr. 2–5 und Nr. 7–10 in der Damaszierung des Schildes und in der Zeichnung abweicht, in einer am Ort ansässigen Werkstatt entstanden sein dürfte12, bilden die in Komposition und Stil ganz für sich stehenden Wappenscheiben der Städte Wolfach und Hornberg (Nr. 11f.) eine eigene kleine Gruppe, die Lisa Eberhardt anhand des Monogramms „GR“ überzeugend dem Glasmaler Gregor Riecker in Villingen zuschreiben konnte13. Bei der jüngsten, 1595 datierten Scheibe aus Zell folgt die Figur des Marschalls einem Riss Christoph Murers, sodass für die Ausführung am ehesten die Werkstatt von Bartholomäus Lingg in Straßburg in Betracht zu ziehen ist, da Lingg engen Kontakt zu Christoph Murer hatte14.
Zugehörige Fenster
Grundriss
Lage des Standorts
- Otto Kähni, Die Reichsstädte der Ortenau, in: Esslinger Studien 11, 1965, S. 43–61; Godehard Grimm, Geschichte der Stadt Zell am Harmersbach, in: Badische Heimat 49, 1969, S. 413–432; Wilhelm Mechler, Die geistlichen und weltlichen Territorien in der Ortenau. Ihre Geschichte bis zur Auflösung 1803–1806, in: Kurt Klein, Land um Rhein und Schwarzwald. Die Ortenau in Geschichte und Gegenwart, Kehl 1978, S. 65–79; Dieter Kauß, Die Vereinsstädte der Ortenau und das Reichstal Harmersbach, in: Handbuch der baden-württembergischen Geschichte, Bd. 2: Die Territorien im Alten Reich, hrsg. von Meinrad Schaab und Hansmartin Schwarzmaier in Verbindung mit Dieter Mertens und Volker Press (†), Stuttgart 1995, S. 747–751, bes. S. 750.»
- Disch 1937, S. 197f.; Petri 22022, S. 80.»
- Hermann Meyer, Die schweizerische Sitte der Fenster- und Wappenschenkung vom XV. bis XVII. Jahrhundert, Frauenfeld 1884; Barbara Giesicke / Mylène Ruoss, In Honor of Friendship: Function, Meaning, and Iconography in Civic Stained-Glass Donations in Switzerland and Southern Germany, in: Barbara Butts / Lee Hendrix, Painting on Light. Drawings and Stained Glass in the Age of Dürer and Holbein, Ausst.-Kat. Los Angeles/St. Louis 2000/01, Los Angeles 2000, S. 43–55; Rolf Hasler, Glasmalerei im Kanton Aargau. Kirchen und Rathäuser (Corpus Vitrearum Schweiz, Reihe Neuzeit 3), [Aarau] 2002, S. 5–15.»
- Honickel 1974, S. 174f. (ohne Nachweis).»
- W. A[loys] Schreiber, Führer für Reisende durch das Großherzogthum Baden, Carlsruhe u. Baden 1828, S. 320; Wilhelm Lotz, Kunst-Topographie Deutschlands. Ein Haus- und Reise-Handbuch für Künstler, Gelehrte und Freunde unserer alten Kunst, Bd. 2: Süddeutschland, Cassel 1863, S. 600.»
- G[ustav] Kachel und Marc Rosenberg, Katalog der Badischen Kunst- & Kunstgewerbe-Ausstellung […]. Abtheilung II: Ausstellung von kunstgewerblichen Erzeugnissen der Vergangenheit, Karlsruhe 1881, S. 171f., Nr. 1770.»
- Disch 1937, S. 198; Petri 22022, S. 80f.»
- Erwähnt bei Honickel 1974, S. 174.»
- Eberhard/Möhrle/Williger 2024.»
- Eberhardt/Möhrle/Williger 2024, S. 191, 193.»
- Strasbourg, Musée de l’Œuvre Notre-Dame, Inv. Nr. MAD LVII 40; Hans Haug, Le Roi du Chœur, in: Bulletin del la Société des Amis de la Cathédrale 2. Série 7, 1960, S. 97–102.»
- Sollte das „H“ eine Signatur sein, ließe sich an den zwischen 1533 und 1550 in Straßburg nachweisbaren, wegen eines Ehehandels mit dem Priester Veit Storck zeitweise aus der Stadt verbannten, nach Fürsprache zahlreicher Adeliger aber wieder begnadigten, „seit Jahren ausgewiesenen Glasmaler“ Kaspar Huckart denken. Zu Huckart s. Ad. Seyboth, Verzeichniss der Künstler, welche in Urkunden des Strassburger Stadtarchivs vom 13.–18. Jahrhundert erwähnt werden, in: Repertorium für Kunstwissenschaft 15, 1892, S. 37–42, hier S. 40, und Hans Rott, Quellen und Forschungen zur südwestdeutschen und schweizerischen Kunstgeschichte im XV. und XVI. Jahrhundert. III. Der Oberrhein. Quellen I (Baden, Pfalz, Elsaß), Stuttgart 1936, S. 247, 282.»
- Eberhardt/Möhrle/Williger 2024, S. 193. Zu Riecker, der auch anderweitig in der Ortenau tätig war (Haslach, Schloss), s. Hans Rott, Quellen und Forschungen zur südwestdeutschen und schweizerischen Kunstgeschichte im XV. und XVI. Jahrhundert. I. Bodenseegebiet. Quellen, Stuttgart 1933, bes. S. 158.»
- Zur Lingg-Werkstatt in Straßburg s. Ariane Mensger, Die Werkstatt von Bartholomäus und Lorenz Lingg: Neue Erkenntnisse zur Glasmalerei in Straßburg um 1600, in: Cahiers alsaciens d’archéologie, d’art et d’histoire 53, 2010, S. 109–122; dies., Die Scheibenrisse der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, 2 Bde., Köln/Weimar/Wien 2012, S. 138–141, 214–216. Für den anregenden Gedankenaustausch in dieser Frage sei Rolf Hasler, Ostermundingen, und Ariane Mensger, Basel, herzlich gedankt!»