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Markus Leo Mock, Von Sachsen über Schlesien nach Portugal. Eine europäische Glasmalereigeschichte,
in: corpusvitrearum.de, 06.06.2019. urn:nbn:de:0238-2019060605.

Dieser Text steht unter einer CC BY-NC 4.0 Lizenz.

Von Sachsen über Schlesien nach Portugal. Eine europäische Glasmalereigeschichte

Von einem „Rätsel in Scheiben“ war in der FAZ vom 25. Februar 2019 die Rede, von einem „Kunstkrimi“, der endlich gelöst sei1. Vier Monate zuvor, am 12. Oktober 2018, hatte die in Chemnitz verlegte Freie Presse von einem lange zurückliegenden „Akt des Frevels“ berichtet, der nun durch eine glückliche Wendung etwas gesühnt sei2. Warum die Aufregung?

Der Auslöser liegt über 200 Jahre zurück. Alles begann mit einer Reise der Prinzessin Fanny Biron von Kurland, einer geborenen Gräfin von Maltzahn, seit 1806 vermählt mit Gustav Kalixt Prinz Biron von Kurland, durchs beschauliche Erzgebirge. Im Sommer 1809 erreichte sie Zwickau, wo ihr in den Fenstern der Marienkirche zehn Glasmalereien auffielen3. Ihr Sammlerinnenherz schlug sofort höher. Anfang September teilte sie dem Zwickauer Superintendenten Gottlieb Lorenz mit, sie sei bereit, 200 Taler für die Felder aufzuwenden, 50 Taler mehr als ein vorheriger Interessent geboten habe. Die Kirchengemeinde hatte nichts gegen den Verkauf einzuwenden, auch der Stadtrat um Bürgermeister Tobias Hempel und das Konsistorium in Leipzig stimmten ohne Umschweife zu. Nachdem die Prinzessin die vereinbarte Summe überwiesen hatte, wurden die Scheiben ausgebaut, in Kisten verpackt und nach Breslau verschickt, wo Fanny mit ihrem Mann eine Wohnung besaß. Durch den Schriftwechsel sind wir über die Gestalt und ursprüngliche Platzierung der abgegebenen Glasmalereien in der Marienkirche unterrichtet. Sieben Felder waren auf fünf Fenster der Nordseite und ein Fenster der Südseite des Langhauses verteilt. Sie zeigten einen Schmerzensmann, eine Kreuzigung mit der Jahreszahl 1514, das Wappen Sigmunds von Schönfels von 1517 (Abb. 4), den Erzengel Michael, die Geburt Christi, die Hl. Familie und die Anbetung der Hl. Drei Könige. Im großen Nordfenster der damaligen „Götzenkammer“ im Turm, der einstigen Bibliothek, waren drei Felder eingesetzt, eine Strahlenkranzmadonna und zwei Kirchenväter (Abb. 1–3).

Abb. 1–3. Strahlenkranzmadonna zwischen den Kirchenvätern Augustinus(?) und Gregor. Sintra, Palácio Nacional da Pena, Inv.-Nr. PNP2821, 2822 und 2809. Zwickau, 1481. Aufnahme: Luís Pavão, Parques de Sintra – Monte da Lua S.A.
Strahlenkranzmadonna

Der Verkauf blieb in Sachsen nicht ohne Konsequenzen. Als er überregional bekannt wurde, entschloss man sich 1824 in Gelehrtenkreisen zur Gründung des später weithin bekannten Königlich Sächsischen Altertumsvereins4. Kronprinz Johann von Sachsen, der langjährige Präsident des Vereins, erinnerte sich 1844 rückblickend, „die betrübende Erfahrung, daß aus der herrlichen St. Marienkirche zu Zwickau mehre[re] Glasgemälde veräußert wurden, [habe] zu der Idee [geführt], durch Gründung eines Vereins dergleichen Unbilden künftig vorzubeugen“5. Auch in Zwickau besann man sich eines Besseren. Als 1839–42 die Marienkirche umfassend restauriert wurde, nahm man sich fest vor, die einst für 200 Taler veräußerten Glasmalereien zurückzukaufen – aber nur für den gleichen Preis. Das Vorhaben stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Zunächst verwechselte man Fanny schlichtweg mit ihrer Schwägerin Dorothea Biron von Kurland, einer Kunstsammlerin und berühmten Salonnière, die 1821 in ihrem Schloss in Löbichau bei Altenburg verstorben war. Als Anfragen an den Breslauer Stadtrat bezüglich des derzeitigen Aufenthaltsorts der Prinzessin unbeantwortet blieben, schaltete man den neu gegründeten Königlich Sächsischen Altertumsverein als Vermittler ein, in der Hoffnung, dass die Besitzerin „den aus der Pietät der Kirchengemeinde hervorgegangenen Wunsch“ erfülle.

Nach einigen Nachforschungen fand man heraus, dass die Scheiben seit 1821, seit dem Tod von Fannys Ehemann Gustav, im Schloss Dyhernfurth in der schlesischen Standesherrschaft Wartenberg lagerten. Fanny war inzwischen in zweiter Ehe mit dem preußischen Generalleutnant Gustav Adolf von Strantz verheiratet, dem Kommandanten der schlesischen Festungsstadt Neisse. Strantz – nicht Fanny – ließ im Februar 1840 wissen, dass einige der Scheiben leider in Fenster eingelassen seien, die Geburt Christi, die Hl. Familie und die beiden Kirchenväter. Die anderen Glasmalereien seien ungenutzt. Kurz und zackig teilte er mit: „Können gegen andere eingetauscht werden.“ Auch die vier eingesetzten Scheiben seien, so Strantz, „für Geld nicht feil, jedoch gegen andere gleich gut erhaltene und eben so große eintauschbar“. Die Bedingung, die Verglasung nicht gegen den Verkaufspreis, sondern gegen andere, qualitativ gleichwertige Glasmalereien einzulösen, erwies sich für die Zwickauer Kirchengemeinde als nicht erfüllbar. Im Mai 1840 nahm sie deshalb mit einem knappen Zweizeiler von der „Wiederanschaffung der vormals in der hiesigen Marienkirche befindlich gewesenen, und im Jahre 1819 verkauften Glasgemälde“ Abstand. Der Glasmalereimarkt war damals zu weiten Teilen leergefegt, und Kirchen, die sich von ihrer mittlerweile als erhaltenswert eingeschätzten mittelalterlichen Verglasung trennen wollten, noch dazu zu einem überschaubaren Preis, waren kaum zu finden.

Über das weitere Schicksal der Glasmalereien lässt sich nur spekulieren, da hierzu einschlägige Unterlagen fehlen. Das erstmals 1839 von Emil Herzog verbreitete Gerücht, die Scheiben seien „für die fast dreifach so hohe Summe nach Paris gewandert“6, muss ins Reich der Legenden verwiesen werden, denn zu diesem Zeitpunkt waren sie ja, gemäß der Aussage von Strantz, noch in Dyhernfurth. Als sich Otto Clemen im Kriegsjahr 1918 in Schlesien auf die Suche nach der Verglasung machte, musste er erfolglos aufgeben, nicht ahnend, dass zumindest einige der Stücke bereits lange zuvor das Land verlassen hatten7. Vier Felder, die Strahlenkranzmadonna, die beiden Kirchenväter und das Wappen Schönfels (Abb. 1–4), waren Mitte des 19. Jahrhunderts – wohl nach dem Tod Fannys 1849 – auf verschlungenen Pfaden in den Besitz König Ferdinands II. von Portugal gelangt. Er ließ sie, zusammen mit anderen Glasmalereien, in Fenster seiner Lissaboner Residenz einsetzen, dem Palácio das Necessidades. Zuvor hatten Glaser die Fehlstellen mit starkfarbigen, unbemalten Tongläsern ergänzt, die noch heute sofort ins Auge fallen. Die Scheiben blieben jahrzehntelang an diesem Ort, bis sie nach Ausrufung der Republik im Oktober 1910 und der Umnutzung des Palastes zum Sitz des Außenministeriums ausgebaut wurden. Nach einer Odyssee durch verschiedene Depots wird die gesamte Glasmalereisammlung Ferdinands seit 2010 umfassend restauriert und wissenschaftlich aufgearbeitet8. Heute ist sie im Schloss Pena in Sintra bei Lissabon, dem Lieblingsschloss Ferdinands, in Vitrinen ausgestellt und der Öffentlichkeit zugänglich9.

Abb. 4. Wappen des Sigmund von Schönfels. Sintra, Palácio Nacional da Pena, Inv.-Nr. PNP2810. Zwickau, 1517. Aufnahme: Luís Pavão, Parques de Sintra – Monte da Lua S.A.
Wappen Sigmund von Schönfels

Dass vier Scheiben der Sammlung aus Zwickau stammen, konnte erst vor kurzem geklärt werden, dank des Wappens des Sigmund von Schönfels (Abb. 4). Das Feld wird in der Literatur zum ersten Mal 1633 in der Stadtbeschreibung des Zwickauer Kantors Lorenz Wilhelm erwähnt10. Am unteren Rand zitiert Wilhelm folgenden Schriftzug: „Sigmund von Schönfels 1517“. Da eine in Pena verwahrte Scheibe mit „Sigmunt v[on Schön] / fels ∙ 1517“ genau diese Inschrift trägt, scheint außer Frage zu stehen, dass sie mit dem von Wilhelm beschriebenen Wappen identisch ist. Die Zuordnung glückte einem mit detektivischem Spürsinn ausgestatteten niederländischen Heraldiker, als er im Internet die digitalisierte Scheibensammlung durchforstete11. Nun war es ein Leichtes, die Provenienz von drei weiteren Scheiben der Sammlung – die beiden Kirchenväter und die Strahlenkranzmadonna – aus Zwickau zu belegen. Die Entdeckung fand ein großes Echo und sorgte dafür, dass im weiten Vorfeld des CVMA-Bands XX,2 (Sachsen) eine kleine Publikation zum Thema und die beiden oben erwähnten Zeitungsartikel erschienen12. Die kunsthistorische Bedeutung der vier Felder ist nicht hoch genug einzuschätzen, ergänzen sie doch vortrefflich unser lückenhaftes Bild von der fast vollständig vernichteten sächsischen Glasmalerei des Spätmittelalters. Mit den beiden großen Kirchenvätern und der Strahlenkranzmadonna haben wir zudem ein seltenes Beispiel dafür, wie und womit Bibliotheken im Mittelalter ausgestattet waren. Die gebildeten Leser, vorrangig Geistliche, aber auch Lehrer der nahen städtischen Schule, konnten sich in diesem Fall die beiden bedeutenden Theologen zum direkten Vorbild nehmen und sich bei ihrem Studium von ihnen inspirieren lassen. Wie in den Kirchenrechnungen nachzulesen ist, wurden die drei Felder, die sich durch helle, kräftige Farbgläser und eine wässrige, durchscheinende Lotbemalung auszeichnen, 1481 von einem ortsansässigen Glasmaler namens Jakob angefertigt. Auch das Schönfels-Wappen ist – leider – archivalisch bekannt: Es war in einer Chronik eine Notiz wert, weil der Glaser beim Einsetzen der Scheibe 1517 vom Gerüst hinab in den Tod stürzte. Das bereits eingebrachte Wappen blieb von diesem Unfall unberührt, zum Glück, denn so konnte es kürzlich den niederländischen Heraldiker auf die richtige Spur bringen. In Zwickau darf man sich seinetwegen heute freuen, nach über 200 Jahren einen Teil der verloren geglaubten Scheiben völlig überraschend, wie aus dem Nichts wiedergefunden zu haben – in Portugal, wo sie niemand vermutet hätte.

Markus Leo Mock

  1. Peter Schönberg, Rätsel in Scheiben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 25.02.2019, verfügbar unter: www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/zwickauer-glasgemaelde-auf-der-spur-der-kirchenfenster-16057938.html (abgerufen am 07.05.2019).»
  2. Torsten Kohlschein, Der Zwickauer Glaskunst-Krimi, in: Freie Presse v. 12.10.2018, verfügbar unter: www.freiepresse.de/zwickau/zwickau/der-zwickauer-glaskunst-krimi-artikel10334603 (abgerufen am 07.05.2019).»
  3. Die Akten liegen im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden, Rep. 12508 Nr. 615 Zwickau, sowie im Ephoralarchiv Zwickau, Rep. ZII CIII.»
  4. Heinrich Magirius, Geschichte der Denkmalpflege: Sachsen, Berlin 1989, S. 53.»
  5. Rede Sr. Königl. Hoheit des Prinzen Johann, Herzogs zu Sachsen, als Höchsten Vorstand des Vereins; gehalten in der öffentlichen Hauptversammlung am 24. August 1844, in: Mittheilungen des Königlich Sächsischen Vereins für Erforschung und Erhaltung der vaterländischen Alterthümer 3, 1846, S. 1–4, S. 1f.»
  6. Emil Herzog, Chronik der Kreisstadt Zwickau. Erster Theil: Topographie und Statistik, Zwickau 1839, S. 113.»
  7. Otto Clemen, Die alten Glasgemälde unserer Marienkirche, in: Alt-Zwickau. Beilage zur Zwickauer Zeitung, 1921, Nr. 1, S. 1f.»
  8. Die Dokumentation ist verfügbar unter: www.researchgate.net/publication/292474127_The_stained-glass_collection_of_King_Ferdinand_II_of_Portugal_concept_conservation_and_chemical_analysis_of_two_panels (abgerufen am 07.05.2019).»
  9. Siehe www.parquesdesintra.pt/en/pontos-de-atracao/exhibition-of-stained-glass-windows-and-glass-pieces/ (abgerufen am 07.05.2019).»
  10. Lorenz Wilhelm, Descriptio Urbis Cygneae/ Das ist Warhafftige und Eigendliche Beschreibung/ der uhralten Stadt Zwickaw: Von ihrer Erbawung/ Regenten/ und Gelegenheit: Auch was sich sondetn zu Fried- und Kriegs Zeit/ in Geist- und Weltlichen Stande denckwürdiges zugetragen, Zwickau 1633, S. 77.»
  11. Die Sammlung ist verfügbar unter: www.matriznet.dgpc.pt/MatrizNet/ExposicoesOnline/ExposicoesOnlineConsultar01.aspx (abgerufen am 07.05.2019).»
  12. Hans-Kaspar von Schönfels, Zwickauer Gotik in Portugal. Seit 160 Jahren schlummert deutsche Gotik in Portugal, Wolnzach 2017, mit Beiträgen von Frederik Berger, Hartmut Scholz und Markus Mock.»